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Begriff Staat

Staat

  • Version 1.0
  • Veröffentlicht 10. August 2021

Zum Wort

Das lateinische Wort status mit der Bedeutung Zustand, Lage, Verfasstheit verlangte grammatikalisch ein Genitivattribut: status rei publicaestatus civitatis – ‘Zu-Stand des Gemeinwesens’. Bereits in der Antike konnte gelegentlich das Attribut wegfallen und mit dieser sprachlichen Ellipse ein politisches Gemeinwesen direkt adressiert werden. (KÖSTERMANN 1937; SUERBAUM 1961) Als eine Verwendung in theoretischer Absicht lässt sich diese sprachliche Verschiebung aber erst im 16. Jahrhundert nachweisen: Mit dem Wegfall des Attributs wurde es möglich, das politische Gemeinwesen nicht mehr als Zustand von etwas, sondern als eigene Ordnungsgestalt zu denotieren. Die Verwendung von status / stato für ein politisches Gemeinwesen spezifischer Art wird zumeist Machiavelli oder den anschließenden Diskursen zugeschrieben. (BOLDT u.a. 1990, 9) Das französische ‘état’ geht auf die Französisierung von status zu ‘estat’ im 13. Jahrhundert zurück.

Quellen
  • KÖSTERMANN, Erich. „’Status’ als politischer Terminus in der Antike“. Rheinisches Museum Für Philologie 86(3) (1937), 225–240. www.jstor.org/stable/41243415 (besucht am 16.10.2020).
  • SUERBAUM, Werner. Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff. Über Verwendung und Bedeutung von res publica, regnum, imperium und status von Cicero bis Jordanis. Münster 1961.
  • BOLDT, Hans, Werner Conze, Görg Haverkarte, Diethelm Klippel u. Reinhart Koselleck. „Staat und Souveränität“. In: Brunner, Otto, Conze, Werner und Koselleck, Reinhart (Hrsg.). Geschichtliche Grundbegriffe Band 6. Stuttgart 1990, 1–154.

Diskurse und Kontexte

1. Diskurs der neuzeitlichen politischen Theorie

Ein strukturtheoretischer Staatsbegriff entstand im 16. Jahrhundert im Diskurs der neuzeitlichen politischen Theorie als das Wort stato zu einem Nomen wurde, das ohne Attribut stehen und damit eine selbständige Sache bezeichnen konnte. Das politische Gemeinwesen wurde nicht mehr nur als Zusammenschluss von Einzelnen oder Haushalten aufgefasst, sondern als ein Ordnungsgefüge eigener Art, ein quasi-natürlicher Strukturzusammenhang, mit dem zu rechnen ist, der untersucht, verstanden, aber auch technisch manipuliert werden kann. (MACHIAVELLI 2007, I 9 und 15) In diesem Diskurs wurde der Staat als Maschine und Apparat (JUSTI zitiert nach WEINACHT 1968, 200) und als eigenständiger Körper und Organismus (BOLDT u.a. 1990, 28), konzeptualisiert. Als gegliederte Ganzheit bedeutete er auch die Ständeordnung (wobei es zu komplexen etymologischen Überschneidungen von stare — stehen zu Zustand/ Stand kam). (WEINACHT 1968, 174) In Bezug auf den Hof- und den Fürstenstaat bezeichnete Staat insbesondere das Finanzwesen, aber auch das Personal, die Ländereien, die Hofhaltung, die Hofordnung und alles, was von ihr abhängig war. (BRUNNER, CONZE und KOSELLECK 1990, 12) In der Folge wurde der Staatsbegriff eng an den Verwaltungsapparat, das Beamtentum und die Bürokratie gekoppelt. Staat wurde zu einer juristischen Person, die geschädigt, der genutzt und der gedient (Staatsdiener) werden kann. Als entpersonalisierte und selbständige Struktursphäre “dauerhafter Institutionen” (HWPh 39.455) konnte Staat zu einem Gegenstand auch wissenschaftlicher Betrachtung werden, so dass der Begriff die Möglichkeit einer Staatslehre (JELLINEK 1900) und Staatssoziologie begründete. (WEBER 1956)

Quellen
  • BOLDT, Hans, Werner Conze, Görg Haverkarte, Diethelm Klippel u. Reinhart Koselleck. „Staat und Souveränität“. In: Brunner, Otto, Conze, Werner und Koselleck, Reinhart (Hrsg.). Geschichtliche Grundbegriffe Band 6. Stuttgart 1990, 1–154.
  • JELLINEK, Georg. Allgemeine Staatslehre. Berlin 1900. doi: https://doi.org/10.1007/978–3‑642–50936‑0
  • JUSTI, Johann Heinrich Gottlob: Die Chimäre des Gleichgewichts von Europa, Altona 1758, S.47f (zitiert nach Weinacht 1968, S. 200).
  • MACHIAVELLI, Niccolo. Il Principe/Der Fürst. Stuttgart 2007.
  • WEBER, Max. Staatssoziologie. Berlin 1956.
  • WEINACHT, Paul-Ludwig. Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jh. Berlin 1968.

2. Herrschaftstheoretischer Diskurs der Neuzeit

In einem herrschaftstheoretischen Diskurs der Neuzeit verknüpft ein machtpolitischer Staatsbegriff das Konzept mit dem Thema der Zentrierung von Macht (Absolutismus), der Staatsraison (Ragione di Stato), der Souveränität und des Gewaltmonopols.(BOLDT u.a. 12ff.) Staat bedeutet in dieser Diskursvariante das Medium und das Instrument der Herrschaftsausübung gemäß der Grundfrage: Wie kann Herrschen gelingen? Von Machiavelli über Bodin und Hobbes bis hin zu Nietzsche und Carl Schmitt wurde der Staatsbegriff durch diese Rahmung geprägt. (BOLDT u.a. 1990, 92; HWPH 39.452 ff.) In der für modernes Staatsrechtdenken überaus wirkmächtigen Begriffsanalyse Jellineks bildet die Staatsgewalt eines der drei konstitutiven Elemente (neben Territorium und Staatsvolk; Drei-Elemente-Lehre) (JELLINKEK 1990, 394ff.); ebenso zentral, auch das Kriterium der Territorialität affizierend, in Max Webers wirkmächtiger Staatsdefinition: “Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes – dies: das „Gebiet“, gehört zum Merkmal – das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht.” (WEBER 2010, 89) Die Kopplung des Staatsbegriffs an das Thema der Zentrierung und Monopolisierung von Herrschaft und Gewalt bedingt einen epochenbezogenen Staatsbegriff, in dem der “Ordnungsbegriff Staat” (SCHMITT 1958, 378) sich ausschließlich auf eine Entwicklung der abendländischen Geschichte beziehen lässt, die nach Anfängen im 16. Jahrhundert insbesondere seit der französischen Revolution von 1789 ihre eigentliche Form annahm Der Staatsbegriff bezeichnet in Bezug auf diese Epoche eine nach außen politisch und territorial scharf abgegrenzte und nach innen durch Staatsgewalt homogenisierte politische Entität. In diesem Kontext steht auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung um der Berechtigung einer Applikation des Staatsbegriffs auf das Mittelalter bzw. um die Konturierung von Staat als ein Phänomen, das die mittelalterliche Gesellschaftsordnung ablöste (LexMA 1995, 2152; HWdPh 39.450ff.; REYNOLDS 1997 und 2003; DAVIS 2003) In dieser Debatte stehen sich Vertreter des machtpolitischen, epochenbezogenen Staatsbegriffs und Vertreter des strukturtheoretischen Staatsbegriffs gegenüber.

Quellen
  • BOLDT, Hans, Werner Conze, Görg Haverkarte, Diethelm Klippel u. Reinhart Koselleck. „Staat und Souveränität“. In: Brunner, Otto, Conze, Werner und Koselleck, Reinhart (Hrsg.). Geschichtliche Grundbegriffe Band 6. Stuttgart 1990, 1–154.
  • DAVIS, Rees. The Medieval State: The Tyranny of a Concept? Journal of Historical Sociology, 2 (2003), 280–300.
  • LexMA. Eintrag „Staat“. In: Lexikon des Mittelalters (Online), Bd. 7. München 1995, 2151–2158. HWdPh „Staat“. In: Ritter, Joachim (Hrsg.). Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10. Basel 1998, 39.450f.
  • JELLINEK, Georg. Allgemeine Staatslehre. Berlin 1900. DOI: https://doi.org/10.1007/978–3‑642–50936‑0
  • REYNOLDS, Susan. The Historiography of the Medieval State. In: Bentley, Michael (Hrsg.). Companion to Historiography. London/New York 1997, 117–138.
  • REYNOLDS, Susan. There were States in Medieval Europe. A Response to Rees Davies. Journal of Historical Sociology, 4 (2003), 550–555.
  • SCHMITT, Carl. Staat als konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff. In: Ders.. Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre. Berlin 1958 (1941). 375–384.
  • WEBER, Max. Politik als Beruf. Berlin 2010

3. Aristotelischer und christlich-naturrechtlicher Diskurs

In einem aristotelischen und christlich-naturrechtlichen Diskurs bindet ein gemeinwohlorientierter Staatsbegriff Staat an die ‘gemeinsame Sache’ (res publica), an Gemeinwohl (bonum commune), Schutz und das aristotelische Strebensziel der eudaimonia (‘Glückseligkeit’) – seit dem 16. Jahrhundert auch in expliziter Abgrenzung zum herrschaftsbezogenen Staatsbegriff und in anti-machiavellistischer Absicht. Aristoteles hatte nur solche politischen Gemeinschaften als Staaten bezeichnet, denen, über ein zweckorientiertes Bündnis (z.B. Schutzbündnisse, Handelsbündnisse) hinaus, das Strebensziel gemeinsamer Verwirklichung von “gutem Leben” inhärent ist. (ARISTOTELES, 1280 a,b) Im Mittelalter dominiert eine Verwendung im Kontext von ‘gutem Regieren’, der “Regentenpflicht ‘bonum statum civitatis et episcopatus regere gubernare et salvare’ ”. (WEINACHT 1968, 55) Konzepte der Sorge (cura), der Wohlfahrt, des public good und des bien du peuple prägen sich dann im Europa des 17. und 18. Jahrhundert diskursbestimmend aus (so bei Keckermann (dazu: WEBER 1992, 110), Pufendorf, Leibniz, Locke, Wolff und im Eintrag ‘Etat (Droit Polit)’ der Encyclopédie (JAUCOURT 1756). (KOGGE 2021) Im Deutschen geht dem Staatsbegriff der wohlfahrtsorientierte Begriff des “gemeinen Wesens” (für res publica) voraus, dessen Konnotate nur allmählich, und unter Widerständen, im 18. Jahrhundert auf den Staatsbegriff übergingen, vollendet dann bei dem Kameralisten Johann H.G. v. Justi, exemplifiziert im Titel seines Werkes Die Grundfeste zu Macht und Glückseligkeit der Staaten. (JUSTI 1760) In dieser Tradition wurde Staat auch im 19. Jahrhundert aufgefasst als Vergemeinschaftung, deren Grundsatz nicht nur “gegenseitige Beschützung”, sondern auch die Ausbildung von “Sittlichkeit” (im Sinne von Ethos) ist. (KRÜNITZ 1835) Dieser zentrale Bedeutungsaspekt drückt sich nicht nur in der christlichen und sozialistischen Staatslehre des späten 19. Jahrhunderts (STEIN 1850), sondern noch im 20. Jahrhundert im Urteil des Kölner Verwaltungsgerichts zu Sealand aus, das dieser künstlichen, minimalen politischen Konstruktion die Anerkennung als Staat u.a. mit dem Hinweis verweigert, dass für den Begriff Staat nicht nur ein “Zusammenschluß zwecks Förderung gemeinsamer Hobbys und Interessen […], sondern eine im wesentlichen ständige Form des Zusammenlebens i. S. einer Schicksalsgemeinschaft”, verbunden mit der Absicht, “miteinander zu leben und damit alle Bereiche des Lebens gemeinsam zu bewältigen” – eine Lebensform, die in diesem Fall nicht gegeben sei. (VERWALTUNGSGERICHT KÖLN, 03.05.1978, Az. 9 K 2565/77)

Quellen
  • ARISTOTELES. Politik. N. d. Übers. v. Franz Susemihl m. Einl., Bibl. u. zus. Anm. hrsg. v. Wolfgang Kullmann, Reinbek bei Hamburg 1994.
  • JAUCOURT, Chevalier Louis de. „Etat (Droit polit.)“ In: Édition Numérique Collaborative et Critique de l’Encyclopédie. Band VI. Paris 1756. S. 19 ff. http://enccre.academie-sciences.fr/encyclopedie/article/v6-39–4/ (besucht am 24.05.2021)
  • JUSTI, Johann Heinrich Gottlob. Die Grundfeste zu der Macht und Glückseeligkeit der Staaten. Königsberg/Leipzig 1760. https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10688045‑5
  • KOGGE, Werner. ‘Die Bedeutung des Begriffs ‘Staat’. Eine kriteriologisch-begriffsgeschichtliche Synopse’. In: Zur Begriffsgeschichte des Begriffs ‘Staat’ und seiner Verwendung in der Altorientalistik – ein Begriffsbericht (gemeinsam mit Eva Cancik, Jörg Klinger, Aron Dornauer, Tomoki Kitazumi und Lisa Wilhelmi). Preprint Nr. 3 der DFG-Kollegforschungsgruppe 2615: “Zwischen Demokratie und Despotismus; Governance-Strategien und Partizipationsformen im Alten Orient”. https://www.geschkult.fu-berlin.de/e/rod/Publikationen/Pre-Prints/index.html(2021)
  • KRÜNITZ, Johann Georg. „Staat“. In: KRÜNITZ, Johann Georg. Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines System der Staats‑, Stadt‑, Haus- u. Landwirthschaft. Bd. 162. Berlin 1835, S. 351–451. http://www.kruenitz1.uni-trier.de (Besucht am 24.05.2021).
  • STEIN, Lorenz von. Geschichte der sozialen Bewegungen in Frankreich von 1789 bis auf unsre Tage. Leipzig 1850.
  • VERWALTUNGSGERICHT KÖLN. 03.05.1978, Az. 9 K 2565/77. In: Deutsches Verwaltungsblatt (1978), S. 510 ff.
  • WEBER, Wolfgang. Prudentia gubematoria: Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992.
  • WEINACHT, Paul-Ludwig. Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jh. Berlin 1968.

Literatur zum Begriff

  • BOLDT, Hans, Werner Conze, Görg Haverkarte, Diethelm Klippel u. Reinhart Koselleck. „Staat und Souveränität“. In: Brunner, Otto, Conze, Werner und Koselleck, Reinhart (Hrsg.). Geschichtliche Grundbegriffe Band 6. Stuttgart 1990, 1–154.
  • HWdPh „Staat“. In: Ritter, Joachim (Hrsg.). Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10. Basel 1998, 39.450f.
  • KOGGE, Werner. ‘Die Bedeutung des Begriffs ‘Staat’. Eine kriteriologisch-begriffsgeschichtliche Synopse’. In: Zur Begriffsgeschichte des Begriffs ‘Staat’ und seiner Verwendung in der Altorientalistik – ein Begriffsbericht (gemeinsam mit Eva Cancik, Jörg Klinger, Aron Dornauer, Tomoki Kitazumi und Lisa Wilhelmi). Preprint Nr. 3 der DFG-Kollegforschungsgruppe 2615: “Zwischen Demokratie und Despotismus; Governance-Strategien und Partizipationsformen im Alten Orient”. https://www.geschkult.fu-berlin.de/e/rod/Publikationen/ (2021)
  • LexMA. Eintrag „Staat“. In: Lexikon des Mittelalters (Online), Bd. 7. München 1995, 2151–2158.

Zitiervorschlag

Werner Kogge, „Staat“, Version 1.0, 10.08.2021, ORGANON terminology toolbox, Berlin: eDoc-Server der Freien Universität Berlin.
  • ORGANON terminology toolbox (von gr. ὄργανον: Werkzeug) ist ein Instrument zur Orientierung in der Landschaft interdisziplinär relevanter Begriffe und Theorien. Mit wenigen Blicken finden Sie hier einen Überblick über relevante Diskurse, Grundlagentexte und weiterführende Links.

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